Dienstag, 29. Juli 2014

Klare Worte

Bislang liefen viele Gespräche mit der freien Schule, an der Naturkind noch immer angemeldet ist, obwohl sie nicht hingeht. Beim letzten Gespräch hat mir die Schule signalisiert, dass eine Zusammenarbeit möglich sein könnte. Eine Zusammenarbeit, bei der Naturkind kommen kann wenn sie will und es lassen kann wenn sie will. Ein Unschooling Konzept, bei dem die Schule das Risiko tragen würde.

Das wäre natürlich eine tolle Sache gewesen, hat sich jetzt jedoch leider vollkommen zerschlagen. Nicht von den für die Leitung verantwortlichen Personen kommt diese überraschende Wendung sondern vom Lehrpersonal. Eine Störung der Gruppendynamik sowie eventuelle Nachahmer werden hier befürchtet.

Es ist schon bemerkenswert, wenn selbst die für die Gestaltung des Miteinanders verantwortlichen Lehrer einer freien Schule mit alternativem pädagogischen Konzept befürchten, alleine in der Schule stehen zu müssen, sobald den Kindern ihre Wahlmöglichkeit bewusst wird.

Ein bisschen schade finde ich es schon, denn es wäre natürlich eine ganz tolle Möglichkeit gewesen, Material, Raum und Kontakte zu nutzen, die im privaten Bereich oft schwer zugänglich sind.

Dennoch - Naturkind zur regelmäßigen Teilnahme zu zwingen kommt in keinem Fall in Frage. Für uns heißt es nun Fahrt aufnehmen und uns alleine dem Meer zu stellen. Die Herausforderungen des Unschooling lasten jetzt alleine auf meinen Schultern. Noch ist mein Rücken gerade, die ersten Klippen sind bereits in Sicht: ein Kindesvater für den Unschooling esoterischer Unsinn ist. Und den ich von der Abmeldung an der Schule nun informieren muß, die ich offiziell in den nächsten Tagen vornehmen werde.

Eines habe ich jedoch bereits gelernt: das Wort "Gruppendynamik" wird mich noch in meinen Träumen verfolgen und immer Sinnbild sein für den Versuch, Menschen durch enge Bindungen zusammen zu halten, die eigentlich keine Gemeinsamkeiten haben und in offenen Gruppen ganz verschiedene Wege gehen würden.


Samstag, 26. Juli 2014

De-Schooling

Zöpfchen wollte nun auch eine Woche lang nicht zur Schule gehen. Ich habe es ausprobiert, zwingen widerstrebt mir bei jedem meiner Kinder.

Jedoch war die Woche für mich sehr hart. Zöpfchen hat nichts anderes gemacht als sich mit ihrem Laptop zurückzuziehen. Den ganzen Tag. Die ganze Nacht. Ins Bett ist sie um 3 oder um 5 morgens. Manchmal schon um 1. Ich habe sie nicht aus dem Haus bekommen. Sie hat keine Freunde getroffen. Sie hat nur die ganze Zeit neue Serien die sie interessieren entdeckt, daraus dann Listen angefertigt. Teilweise japanische Worte gelernt, auch einiges an Englisch. Natürlich auch viel über Mangas, denn es waren Animes, mit denen sie sich beschäftigt hat. Auch wie das mit dem Download geht. Verschiedene Dateitypen etc.

Ich sehe also wohl dass sie viele Dinge gelernt hat. Aber unsere Beziehung innerhalb der Familie ist in dieser Woche fast komplett zerbrochen. Keine gemeinsame Aktivität. Schlechte Laune durch zuviel Konsum. Streit. Keine Mithilfe bei irgendwas. Kein Miteinander. Kein Kontakt mit anderen Menschen. Nicht einmal Kontakt mit dem Wetter draußen. Nur Konsum. Und essen.

Im Rückblick nach dieser Woche gehe ich davon aus, dass wir hier eine De-Schooling Situation wie aus dem Bilderbuch erlebt haben. Ich wäre bereit, dieses De-Schooling durchzustehen. Einmal zumindest, denn es ist sehr hart. Aber das hat doch nur Sinn, wenn Zöpfchen sich dazu entscheidet, auf die Schule zu verzichten. Und das ist nicht ihr Plan im Moment. Sicherlich werde ich nicht einen Wechsel von Schooling und De-Schooling über einen längeren Zeitraum mitmachen. De-Schooling ist aus meiner Sicht nur zu ertragen, wenn das Ziel ist, im Unschooling anzukommen.

Ich verstehe jetzt, warum viele Eltern mit Schulkindern dafür sorgen, dass sie auch in den Ferien "gut aufgehoben" sind. In der Ferienfreizeit sind sie nicht nur ganztags betreut, sie haben auch keine Chance, in das De-Schooling zu starten, für das sich die Sommerferien per se gut eignen. Geht auch nicht, wenn die Eltern selbst frei haben und eine enge Kontrolle ausüben. Ansonsten sähe man wohl allerorts nur verzweifelte Eltern. Andererseits - 6 Wochen unkontrolliert konsumieren als Ausgleich für ein Jahr in der Schule sitzen - das scheint in unserer Gesellschaft eine anerkannte Belohnung zu sein.

Für mich ist es so, dass ich erkannt habe, dass ich Naturkind und Zöpfchen komplett unterschiedlich behandeln muss. Naturkind hatte ihre De-Schooling Phase schon nach dem Ganztagskindergarten. Sie schaut auch gerne vormittags Filme auf Youtube, wenn ich noch in der Arbeit bin. Aber spätestens wenn ich komme hört sie auf und macht etwas mit mir oder beschäftigt sich mit etwas anderem. Sie ist offen für Dinge. Und sie verbringt mitnichten alle Zeit, die sie ohne mich hat, mit Konsum. Oft erarbeitet sie sich eine Fantasiewelt oder ähnliches. Sie entdeckt die Welt gerne. Virtuell und echt.

Zöpfchen werde ich dieses Vertrauen das ich Naturkind entgegenbringe, nicht auf einen Schlag schenken können. Solange sie in der Schule ist, auch wenn es eine freie ist, ist die Seite der Eigenverantwortung bei ihr einfach viel zu schwach ausgeprägt. Wo Naturkind ins Bett geht wenn sie müde ist, da zwingt sich Zöpfchen zum Wachbleiben, mißachtet die Signale ihres Körpers. Das wird natürlich mit dem morgendlichen Wecker schon gut trainiert. Eine vollkommen unterschiedliche Lebenssituation also, in der sich meine beiden Kinder befinden.

Sollte Zöpfchen irgendwann beschließen, dass sie nicht mehr zur Schule gehen will, dann werde ich vermutlich zunächst homeschoolen und dann nach und nach in dem Maße in dem ihre Kompetenzen wachsen zum Unschooling übergehen. Ich denke, dieser kalte Entzug des De-Schoolings ist mehr als unsere Familie verkraften kann. Lieber schleiche ich die Droge Schule langsam aus.

Für den Moment möchte ich eine Lösung mit Zöfpchen finden, mit der wir alle leben können. Ich kann nicht mehr zulassen, dass sie sich komplett aus der Familie zieht und ihre Gesundheit vernachlässigt. Um dann wieder in die Schule einzusteigen, wenn das Schlimmste voraussichtlich überstanden sein wird.
Ist nicht ganz einfach, denn ohne Bindung finden sich auch Lösungen viel schwerer.

Diese letzte Woche hat mich jedoch auch in meinem Beschluß bestärkt, Naturkind als Unschooler aufwachsen zu lassen. Einmal die Woche zur freien Schule zu gehen sehe ich als Maximum. Dies ist dann wie der wöchentliche Besuch eines Vereins, den man auch ausfallen lassen kann. Schule wird in Naturkinds Leben keine weitere Bedeutung erlangen. Dafür werde ich kämpfen.

Samstag, 12. Juli 2014

Aber wie ist das mit den Freunden?

Das ist wohl eine der ersten Fragen, die ich höre, wenn Menschen erfahren, dass Naturkind nicht zur Schule geht. Gerne auch mit dem Schlagwort "fehlende Sozialisation" untermauert.

Eine gängige Definition für Sozialisation:
"Sozialisation nennt man den lebenslangen Prozeß der Entstehung individueller Verhaltensmuster, Werte, Maßstäbe, Fähigkeiten und Motive in der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Maßstäben einer bestimmten Gesellschaft" (Zimbardo 1995, S.80).

Wieso sollte ein "lebenslanger" Prozess in eine kurze Zeitspanne (der Kindheit und frühen Kindheit) gepresst werden?

In der Soziologie wird klassischer Weise unterschieden in primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation. Die Primärsozialisation wäre demnach diejenige Sozialisation welche im Lebensabschnitt ab Geburt bis zum älteren Kindesalter (Beginn der Adoleszenz) stattfindet.

Nicht die Gruppe der Gleichaltrigen sondern die Stammfamilie ist von elementarer Bedeutung für die Primärsozialisation. Sie verbleibt auch als elementarer Stabilitätsfaktor der Sekundärsozialisation, während derer im zunehmenden Adoleszenzalter soziale Gruppen außerhalb der Familie zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die tertiäre Sozialisation letztendlich findet im Erwachsenenalter statt, wenn andere Einflüsse, wie beispielsweise die neu gegründete eigene Familie oder anderweitig konstruierte eigene Lebensweg, den starken Stellenwert der Stammfamilie ablösen (aber nicht vollkommen auflösen). 

Die primäre Sozialisation findet also in der Familie statt. Eine Familie lebt als Teil einer Gesellschaft, wodurch ständige Einflüsse, Kontaktflächen und Reibungspunkte zu allen möglichen anderen potentiell sozialisierenden Faktoren entstehen. Dennoch sorgt die starke Verbindlichkeit innerhalb einer Familie für die Sicherheit, die m.E. notwendig ist, um ein gesundes Öffnen für weitere Faktoren überhaupt erst zu ermöglichen. 

Weitere Infos zur Bedeutung der Familie in der Sozialisation finden sich im Handout des Seminars „Die Funktion der Familie in der primären Sozialisation“ am Pädagogischen Institut der Technischen Hochschule Darmstadt.

Der rennomierte kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld (Verfechter eines bindungsbasierten Entwicklungsmodells) beschreibt in einem seiner Vorträge sehr eindrucksvoll, wie wichtig für unsere Kinder eine gesunde Beziehung und sichere Bindung innerhalb der Familie ist. In der heutigen Gesellschaft haben seiner Meinung nach die "Peers", also die gleichaltrigen Kinder, eine zu starke Bedeutung als Sozialisationsfaktoren zugewiesen bekommen. Die Peers sind aber überhaupt nicht in der Lage, eine stabile Bindung zur Verfügung zu stellen, da sie selbst noch inmitten der Sekundärsozialisation stecken und selbst stabile Bindungen bräuchten.

Dies wirft für mich viele Fragen auf:
Ist es wirklich wichtig, dass unser Kindergartenkind bereits mit anderen Kindergartenkindern "spielt"? Dass unser Kleinkind im Kinderhort andere Kleinkinder "kennenlernt"? Dass unser Kind im Grundschulalter täglich stundenlang einer Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen in einem autoritär strukturierten Umfeld unterworfen ist? 
Wieso sollte eine Primärsozialisation funktionieren wenn sie in Gruppen stattfindet, in denen keine Vertrauensbasis vorherrscht? Und wieso sollte es im Interesse unserer Kinder liegen, wenn sie sich schon so früh von der vertrauten Familie so stark lösen? 

Nach Gordon Neufeld führt eine Bindung auf Basis von Liebe, Vertrauen und Respekt zu einem "Attachment", zu einer Verbundenheit, die im sozialen Miteinander dazu führt, dass die so gebundenen Personen der anderen Person gerne ihre Bedürfnisse erfüllen mögen. 

Ähnlich formuliert das auch Marshall Rosenberg in seinem Konzept der gewaltfreien Kommunikation. Eigentlich sagen alle Menschen nur "bitte erfülle meine Bedürfnisse" und "danke". Je nach Art der Bindung und je nach Sozialisation kann das aber auf sehr unterschiedliche Art ausgedrückt werden und in unserer westlichen Gesellschaft ist leider die "Wolfssprache" sehr ausgeprägt. Das wäre dann ein "Du bist einfach zu dumm um auch nur irgendwas richtig zu machen" anstelle des eigentlich gemeinten "Bitte schließe die Tür, mir tun die Knochen weh, wenn es zieht."

Wenn wir nun eine Gruppe von nur dürftig gebundenen Kindern in einem Alter in dem sie sehr viel Sicherheit brauchen aufeinander los lassen, als Eltern die Verantwortung für deren Wohlergehen in die Hände Fremder legen. In eine Gruppe, die hauptsächlich aus Gleichaltrigen besteht, keiner von ihnen in der Lage als Vorbild für den anderen zu dienen. Wie sollen diese Kinder dann jemals Vertrauen aufbauen, in sich selbst, in die Welt, überhaupt zu irgendetwas?

Bevor ich mich mit diesen Wissenschaftlern auseinander gesetzt habe und bevor ich es mir erlaubt habe, über den Rand meiner eigenen Primärsozialisation hinaus zu denken, da war ich auch eine von denen, die der Gruppe der Gleichaltrigen eine immense Bedeutung für die soziale Entwicklung zugeschrieben haben.

Heute habe ich so viel mehr gelernt. Ich sehe wie sich meine Beziehung zu Naturkind von Tag zu Tag festigt. Ich kann zwischen uns jetzt schon eine stabile Kordel sehen. Ich merke, wie wir ohne Druck und Angst miteinander viel besser auskommen, unser Leben miteinander ist soviel leichter geworden. 

Ich sehe, wie sich meine Beziehung zu Zöpfchen, die ich schon fast verloren glaubte, langsam, mit einem spinnenseidenen Faden noch im Moment, entwickelt. Wir fangen an, uns näher zu kommen. Ohne diesen ganzen Druck, den ein Leben nach deutschen Standards mit sich bringt ("Du musst noch deine Hausaufgaben machen", "Los, ins Bett"...).

Für Zöpfchen werden ganz plötzlich Freunde wichtig. Je mehr Sicherheit und Entspannung sie innerhalb der Familie hat, desto mehr öffnet sie sich für soziale Veranstaltungen außerhalb der Familie. Die Loslösung geschieht im gleichen Maß wie die Bindung an mich steigt.

Es ist plausibel, wie Neufeld es auch ausdrückt. Erst wenn du sicher bist, bist du bereit für ein Abenteuer, immer in dem Wissen, dass der sichere Hafen als Zuflucht auf dich wartet.

Daher, liebe Eltern: es ist vollkommen egal, wenn euer 6jähriges Kind noch nicht auf 5 Kindergeburtstage im Jahr eingeladen wird. Macht was Schönes mit eurem Kind an diesem Tag, arbeitet an eurer Beziehung zueinander. Und beobachtet mit Freuden, aber auch mit offenen Armen für eine verfrühte Rückkehr, wie euer Kind eines Tages ganz von selbst die Segel setzen wird.